Der Mond ist aufgegangen
From: Irmgard Pinn [mailto:Irmgard.Pinn@gmx.net]
Sonntag, 26. November 2000 13:35
Angela Grünert
Der Streit um die Islamische Zeitrechnung ist auch ein Kampf um Macht und
Dominanz in der muslimischen Welt Gespannt wird die Islamische Welt am 25.
November nach dem Neumond Ausschau halten, dessen Erscheinen den Beginn des
Fastenmonats Ramaḍaan verkündet. In Katar ist das Volk angehalten, mit den
Augen das Himmelszelt zu durchforsten; wer die schmale Sichel zuerst entdeckt,
wird wie jedes Jahr mit einer Schweizer Uhr belohnt. In Ägypten werden die
Sichtungsdelegationen der Religionsgelehrten von Astrophysikern begleitet und
beraten, in Tunesien beRuuhht die Islamische Zeitbestimmung allein auf
astrophysikalischen Prognosen. Alle aber beanspruchen für sich, die einzig
"wahre" Methode anzuwenden. In der Islamischen Welt herrscht
Konkurrenz um die Verwaltung der Islamischen Zeit. Im Büro des Grossmufti
Schaikh Nasser Farid Wassil steht für jede Himmelsrichtung ein Telefon zur
Verfügung. Bei Sonnenuntergangszeit am 25. November werden wieder Millionen
von Menschen in aller Welt mit gross
er Spannung ihr Klingeln erwarten. Zwei
Anrufer, die Zeugnis darüber ablegen, die Sichel des Neumondes gesichtet zu
haben, würden eigentlich den Vorgaben des Koran Genüge tun, und der Beginn
des Ramaḍaan könnte verkündet werden. Mufti Wassil wird jedoch wie immer erst
das Eintreffen aller Berichte der sieben, in ganz Ägypten entsandten
Delegationen von Religionsgelehrten und Astrophysikern abwarten, bevor er vor
laufenden Kameras den Muslimen in aller Welt eine glückliche Fastenzeit wünscht.
Mohammad Gharib ist als offizieller Vertreter des staatlichen
Forschungsinstituts für Geophysik und Astronomie dieses Jahr dem Komitee auf
dem Qattamaia-Berg zugeteilt. Kurz nach Sonnenuntergang wird er den
Religionsgelehrten die verschiedenen Ferngläser und Teleskope zureichen und
wissenschaftliche Hilfestellung für die Ausschau nach der wenige Millimeter
schmalen Mondsichel geben. Der diplomierte Astropysiker weiss
auf Grund
physikalischer Berechnungen bereits seit mehr als einem halben Jahr, in
welchem Winkel, zu welcher Sekunde der Neumond aus dem Schatten der Erde tritt
und wahrgenommen werden kann. Diese wissenschaftlichen Prognosen des
staatlichen Forschungsinstituts für Astronomie und Geophysik werden im
Auftrag des Grossmufti erstellt. Dennoch können sie den Blick aus über
siebzig Gelehrtenaugen in den ägyptischen Abendhimmel nicht ersetzen.
Professor Galal, der Direktor des Forschungsinstituts, erklärt die komplexen
Zusammenhänge der ru'yat al-hilal, der Sichtung und Bezeugung des Neumondes
zwischen religiösen Vorgaben und physikalischen Voraussetzungen: Wenn am Ende
seiner ellipsenförmigen Reise der Mond um die Erde im Schatten unseres
Planeten steht und ihn kein Sonnenlicht mehr treffen kann, ist es finster um
ihn. Erst wenn der schmale Mondstreifen wieder in das Strahlenfeld der Sonne rückt,
hat aus physikalischer Perspektive ein neuer Zyklus begonnen, den man
"astronomischen Neumond" nennt. Dieser mathematisch exakt
berechenbare Moment ist nicht immer mit blossem Auge erkennbar. Im Islamischen
Kontext jedoch beginnt ein neuer Monat erst, wenn zwei Muslime die Sichel mit
eigenen Augen gesehen haben. So kommt es, dass zwischen astronomischem und
Islamischem Neumond oftmals eine Spanne von ein bis zwei Tagen liegt. Auch die
Wahrscheinlichkeit, den Neumond tatsächlich sehen zu können, wird von
Professor Galal und seinem Team berechnet. Manchmal stehen die Sterne so günstig,
dass mehrere Minuten Zeit sind, die haarfeine Sichel zu erfassen, bevor sie
wieder hinterm Horizont verschwindet. Meistens jedoch bleiben nur Bruchteile
von Sekunden. Ob das reicht oder ob sich gerade Wolken ins Blickfeld des
Betrachters schieben, das bleibt letztlich dem Zufall sprich: dem Willen
Gottes überlassen. Daher ist in den meisten Ländern mit Islamischer
Zeitrechnung, die obligatorische Ausschau am 29. jeden Monats unerlässlich. Für
den gröss
ten Teil der muslimischen Bevölkerung stellt die Einteilung der
Zeit in Mondmonate allerdings eine mühsame Rechenaufgabe dar. Im Zeitalter
der Globalisierung hat sich ihr Alltag mehr und mehr der westlichen
Zeitrechnung angepasst, und immer weniger Menschen kennen die Kriterien, nach
denen sich Beginn und Ende der Islamischen Monate bestimmen, oder wären gar
selbst in der Lage, diese zu ermitteln. Ausgangspunkt dieser Unsicherheit sind
die vagen Vorgaben des Koran und die unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen
Interpretationen der verschiedenen Islamischen Rechtsschulen. Im Koran wird
lediglich von "einer Anzahl von Tagen" in einem Monat gesprochen, an
denen das Fasten vorgeschrieben ist, ohne konkreten Aufschluss über die Dauer
des Ramaḍaans zu geben oder zu sagen, welche Konsequenzen die verschiedenen
Zeitzonen für den einheitlichen Vollzug des Fastenmonats haben. Selbst die
Angaben zum täglichen Fastenbeginn und die Zeit des Fastenbrechens sind
metaphorisch als der Zeitpunkt "an dem man einen weiss
en von einem
schwarzen Faden nicht unterscheiden kann" umschrieben und bieten
reichlich Spielraum für tausend und eine Interpretation. Bei der ru'yah
al-hilal gilt das übereinstimmende Zeugnis zweier Muslime verbindlich für
die gesamte Gemeinde. Also für die gesamte Islamische Welt? Genau das ist
umstritten. Die Arabischen Emirate, Bahrain und Jemen orientieren sich mit der
Neumondbestimmung an Saudi Arabien, während Marokko und die Türkei die
Vorgaben aus Ägypten übernehmen. Dieses "Schisma" hat auch
politische Ursachen. Die Unterzeichnung des ägyptisch-israelischen
Friedensvertrages 1977 hat dem bis dahin massgebenden religiösen Zentrum
einen erheblichen Prestigeverlust eingebracht. Palästina und Jordanien übernehmen
seitdem die Neumondbestimmung aus Saudi Arabien. Libyen, das sich jahrelang an
Ägypten hielt, folgt seit der von Riad vermittelten Lockerung amerikanischer
Wirtschaftssanktionen den saudischen Vorgaben. Aber auch auf innenpolitischer
Ebene spiegelt die Neumondbestimmung politische Machtverhältnisse wider. So
wurde in Ägypten erst Ende der achtziger Jahre das Forschungsinstitut für
Geophysik und Astronomie in die Neumondbestimmung einbezogen. Eine Massnahme,
die in den Islamistischen siebziger Jahren nicht denkbar gewesen wäre und
auch zehn Jahre später noch Demonstrationen und
Protestveranstaltungen extremistischer Gruppierungen ausgelöst hat. Ein
Islamischer Satellit Krabbenpulsator - Jagende Hunde -Andromeda- und
Rosennebel - in den Gängen des Instituts für Astronomie der Universität
Kairo hängen in Aluminium gerahmt die Gruppenporträts ferner Gestirne aus
dem Fotostudio der Karl-Schwarzschild-Sternwarte in Tautenburg. Professor
Merfed Auwad lobt die Qualität deutscher Teleskope und bedauert das wenig
ausgeprägte Interesse der deutschen Kollegen an der Entwicklung von
Satelliten. Die Raumfahrtswissenschaftlerin ist in ganz Europa und Amerika auf
der Suche nach einer Werkstatt für ihren "Islamischen Satelliten".
Ein Projekt, das ihr vom Grossmufti persönlich angetragen worden ist - aus
gutem Grund. Die Sichtung und Bezeugung des Neumondes war 1996 der erste Prüfstein
des von Präsident Mubarak frisch ernannten Grossmufti Wassil. Keiner der
insgesamt sieben, in ganz Ägypten ausgesandten Delegationen war es damals
gelungen, am 29. Tag des Fastenmonats die Neumondsichel zu sehen. Während
Saudi Arabien, wo man das Gestirn gesichtet hatte, sich in dieser Nacht schon
auf Id, das dreitägige Fest zum Abschluss des Ramaḍaan, vorbereitete,
verordnete Sheikh Wassil den Ägyptern noch einen weiteren Fastentag.
Willkommener Anlass für die Opponenten des Grossmufti, seine Kompetenz als
offiziellen Interpreten des Islams für den Staat grundsätzlich in Frage zu
stellen. Die Wahl des Grossmuftis, exklusiv dem Präsidenten vorbehalten, war
höchst umstritten gewesen. Liberalen Kreisen galt der Scheich als zu
konservativ, und die Konservativen warfen ihm vor, der Regierung nicht fern
genug zu stehen. Farid Wassil wusste, dass er in dieser Krisensituation mit
stichhaltigen Argumenten überzeugen und alles daransetzen musste, den
Konflikt um die korrekte Neumondbestimmung zu lösen. Der Religionsgelehrte
studierte die Aussagen der theologischen Quellen zum Thema und rief die
Wissenschaftler zu sich. Für Merfed Auwad war der Mond bis dahin nur einer
von vielen Himmelskörpern, denen ihre akademische Leidenschaft gilt. Der
Auftrag, eine wissenschaftliche Lösung für den religösen Disput zu finden,
fasziniert die gläubige Muslimin. Als Naturwissenschaftlerin analysierte sie
zunächst die Fehlerquellen und kam zu dem Ergebnis, dass uneinheitliche Massstäbe,
ungleiche Untersuchungsmethoden und vor allem die Uneinigkeit über die
Interpretation beziehungsweise Konsequenzen des Resultats der ru'yah al-hilal
denkbar ungünstigste Voraussetzungen für eine einheitliche Islamische
Zeitbestimmung bilden. Zur technischen Lösung des Problems empfahl die
Professorin eine Sichtquelle, auss
erhalb der Erdatmosphäre - einen für alle
Länder mit Islamischer Zeitrechnung verbindlichen Satelliten, dessen exakte
Analysen der menschlicher Wahrnehmung überlegen sind. Damit die
Satellitendaten am Ende auch zu einer einheitlichen Zeitbestimmung führen, bräuchte
es einen Konsens der Religionsgelehrten auf internationaler Ebene darüber,
wie diese Resultate im religiösen Kontext zu interpretieren sind. Ihr
Vorschlag unterstützt die Argumentation des Grossmufti, dass ein Zeugnis
zweier Muslime (und des Satelliten) für alle Länder gültig ist, die einen
Teil der selben
Nacht gemeinsam haben. Nähme man dschidda in Saudi Arabien als Zentrum, gäbe
es kein anderes Land, das mit dieser Region nicht wenigstens ein paar Stunden
Dunkelheit teilt. So liesse sich erreichen, dass die Islamischen Monate
weltweit zur gleichen Zeit beginnen und enden. Damit hätten
Naturwissenschaftler in Kooperation mit Religionsgelehrten eine Lösung für
ein anderthalbtausend Jahre altes Problem gefunden. Die Islamische Welt besässe
einen allgemein verbindlichen Kalender und würde damit zurückkehren zum
ursprünglichen Konzept einer einheitlichen verlässlichen Abfolge von Festen
und Riten als Identifikationsmoment der muslimischen Gemeinschaft. Anderthalb
Jahre haben Doktor Auwad und ihr Team damit verbracht, alle technischen
Details zusammen zu tragen, die eine religiöse Argumentation für den
Islamischen Satelliten stützen. Der gewann, parallel dazu, auf dem Papier
konkrete Gestalt: 150 Kilogramm schwer, im Durchschnitt etwas schlanker als
einen Meter und ungefähr drei Meter lang, in seinem Inneren mit Kameras,
Teleskopen, Reflektoren und Magnetometern ausgestattet. Eine Computeranlage
koordiniert die Zusammenarbeit der Instrumente und überträgt die Aufnahmen
des Mondes in regelmäss
igen Intervallen zur Erde. Durchschnittlich tausend
Kilometer von der Erde entfernt, soll der Satellit alle anderthalb Stunden um
den Mond rotieren, ihn dabei fotografieren und die Aufnahmen zwecks
Begutachtung und Bezeugung des Neumondes zur Erde senden. Nach Abschluss der
Studie wurden Konstruktion und Entsendung des Satelliten international
ausgeschrieben. Mit 14 Millionen Dollar ist das Vorhaben veranschlagt. Woher
die Gelder kommen sollen, steht jedoch noch in den Sternen. Das Büro des Grossmufti
hat sich notfalls bereit erklärt, die muslimischen Exilgemeinden - für die
dann auch erstmals zuverlässige Gebets- und Festzeiten gewährleistet wären
- um Spenden anzugehen. Doch die eigentliche Schwierigkeit sieht Farid Wassil
darin, das Einverständnis unter den für technische Neuerungen wenig
aufgeschlossenen Kollegen in Saudi Arabien zu bekommen, die weiterhin darauf
beharren, dass die ru'yah al-hilal nur mit blossem Auge und nicht einmal mit
Brillen- oder Ferngläsern zulässig sei. Ein erbitterter Diskurs Sheikh
Wassil weiss
wohl, dass es sich beim Konkurrenzgerangel um die Verwaltung der
Islamischen Zeit um weit mehr handelt als um die wahre Auslegung der Quellen.
Die Debatten zwischen Religionsgelehrten und Wissenschaftlern, zwischen
Tradition und Moderne, zwischen Religion und Staat spiegeln sowohl die
Islamisierung des politischen Raumes als auch die Politisierung der religiösen
Sphäre. Es ist ein erbitterter Diskurs um Macht und Einfluss mit hohem
politischen Anspruch, in dem es um nicht weniger als die Dominanz des religiösen
Zentrums innerhalb der Islamischen Welt geht. Und nicht zu vergessen, das
Projekt hatte seinen Ursprung in der Infragestellung der Kompetenz des Gossmufti,
der damit auch die Festigung seiner Reputation erhofft. Es scheint ihm zu
gelingen, die Koran-gestützten Argumente hat er sich auch von den
Wissenschaftlern absegnen lassen: "Der Prophet hat uns beauftragt unseren
Kalender an den Neumonden zu orientieren. Der Islamische Satellit kann uns
dabei helfen. Er arbeitet, wie das blosse Auge, nur noch viel exakter, und wer
fortschrittlich denkt, der kann in ihm sozusagen das Ideal des blossen Auges
erkennen!" Von unserer Autorin erscheint im Herbst 2001 beim
Knesebeck-Verlag: Fasten mit allen Sinnen
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Freitag 24_11_2000 Der Mond ist aufgegangen.htm
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