Der Haudegen und sein Feigenblatt
Naher Osten. Der linke israelische Kritiker Uri Avnery erklärt, woher die
Nahostkriege kommen und wie ein Friede zu haben wäre. von Uri Avnery / aus der Zeitschrift profil 17/2001
Diesen Donnerstag
feiert Israel seinen Unabhängigkeitstag. Holocaust und Unabhängigkeit,
Auschwitz und militärische Siege, das Warschauer Ghetto und die israelische
Armee – das sind die wesentlichen Bestandteile der kollektiven Psyche Israels.
Für die Palästinenser ist der Holocaust ein israelisches Propagandainstrument.
Sie sehen nicht ein, warum gerade sie den Preis für die Gräuetalten der Europäer
zahlen sollen. Sie definieren sich als Opfer der Opfer. Die zionistische
Bewegung war eine Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus in Europa. Es ist
kein Zufall, dass der Wiener Journalist Theodor Herzl sie 1897 gründete – im
selben Jahr, in dem der Antisemit Karl Lueger Bürgermeister von Wien wurde.
Das schlechte Gewissen des Westens nach dem Holocaust hat die Vereinten Nationen
veranlasst, einen jüdischen Staat in Palästina zu befürworten. Der Rest
sollte ein palästinensisch-arabischer Staat werden. Die Araber, für die Palästina
seit 13 Jahrhunderten ihr Heimatland ist, weigerten sich natürlich, das zu
akzeptieren. Damit begann der Krieg, der heute eine neue Phase der Gewalt
erlebt.
Noch vor einem Jahr meinten viele, auch in Israel, dass die Lösung nahe wäre.
Der Berufsmilitär Ehud Barak dachte, er könne den Palästinensern eine Lösung
diktieren.
Er forderte die Palästinenser nicht nur auf, seine Vorschläge bedingungslos
anzunehmen, sondern auch zu unterschreiben, dass der Konflikt damit
„beendet“ sei. Das hätte bedeutet, dass die Palästinenser für immer auf
drei Grundforderungen verzichten: das Recht auf Rückkehr der Flüchtlinge, die
Souveränität über Ostjerusalem (mit dem Tempelberg) und die Aufhebung der jüdischen
Siedlungen in den besetzten Gebieten. Beim Camp-David-Gipfel im Sommer 2000
lehnte Yassir Arafat das ab. Damit war die Karriere Baraks zu Ende.
Für die überwiegende Mehrheit der Israelis sieht das so aus: Barak hat den Palästinensern
unglaubliche Zugeständnisse gemacht. Statt dies dankend anzunehmen, hat Arafat
es abgelehnt und einen Krieg angezettelt. Ergo: Die Palästinenser wollen ja gar
keinen Frieden, sie wollen die Juden ins Meer werfen, sie wollen einen zweiten
Holocaust.
Das hat zum Zusammenbruch eines Teils der israelischen Friedensbewegung und zur
Wahl von Ariel Sharon geführt. Sharon hat sich als gütiger Grossvater präsentiert,
ein alter Haudegen, der den Frieden über alles liebt. Natürlich hat dieses
Bild nichts mit dem wirklichen Sharon zu tun. Er war und bleibt ein
Gewaltmensch, ein rechtsradikaler General, der seit Jahrzehnten die Erweiterung
der Siedlungen in den besetzten Gebieten als seine Lebensaufgabe betrachtet. Er
hat viele Dutzend Siedlungen geplant and aufgebaut, mit dem Ziel, die Rückgabe
des Westjordanlandes und des Gazastreifens an einen zukünftigen Palästina-Staat
zu verhindern.
Der Siedlungsplan ist so gestaltet, dass er das palästinensische Gebiet von
Nord nach Süd und von West nach Ost durchschneidet. Ein Netz von
„Umgehungsstrassen“ verbindet die Siedlungen miteinander, nicht aber mit den
arabischen Dörfern und Städten, die voneinander abgeschnitten sind. Das heisst,
wenn Sharon jemals einen Palästina-Staat genehmigt, würde dieser aus einer
Reihe von Enklaven bestehen, die von israelischen Siedlern und Soldaten
umzingelt sind, ähnlich den früheren südafrikanischen „Bantustans“.
Im Teilungsplan von 1947 haben die Vereinten Nationen der jüdischen Bevölkerung
Palästinas (damals ein Drittel der Gesamtbevölkerung) 55 Prozent des Landes
zugesprochen. In dem darauf folgenden Krieg, der von der arabischen Seite
begonnen wurde, hat Israel weitere 23 Prozent des Landes erobert, macht
insgesamt 78 Prozent. Jetzt geht es um die restlichen 22 Prozent. Wenn Sharon
bereit ist, den Palästinensern 40 Prozent der besetzten Gebiete zurückzugeben,
wie er manchmal andeutet, heisst das, dass die Palästinenser sich mit weniger
als zehn Prozent ihres ehemaligen Heimatlandes begnügen sollen.
In diesen Gebieten leben heute 2,5 Millionen Palästinenser. Eine weitere
Million Palästinenser leben in Israel als offizielle Staatsbürger. Aber ungefähr
vier Millionen Palästinenser fristen ihr Leben als Flüchtlinge im Libanon,
Syrien, Jordanien und anderswo. Sie verlangen das prinzipielle Recht, in ihre
alten Wohnstätten zurückkommen zu dürfen, obwohl sie wahrscheinlich bereit wären,
die Zahl der Rückkehrer zu beschränken. Die israelische Regierung besteht aber
darauf, dass eine Rückkehr – theoretisch wie praktisch – gar nicht erlaubt
wird.
Dazu kommt das Problem Ostjerusalem und besonders der Tempelberg. Auf diesem Hügel
stehen seit mehr als tausend Jahren die drittheiligsten Moscheen des Islams: die
goldene Kuppel des herrlichen Felsendoms und die Aksa-Moschee. Kein palästinensischer,
arabischer oder überhaupt muslimischer Führer in der Welt könnte es wagen,
auf die Souveränität über diesen Hügel zu verzichten. Für die Juden ist es
aber der Ort des Tempels, der von den Römern vor 1930 Jahren zerstört worden
ist. Er ist der heiligste Ort der Juden.
Seit sieben Monaten tobt jetzt der Krieg. Gibt es eine politische Lösung? Eine
wäre, dass die israelische Besatzung beendet wird. Der Staat Palästina
entsteht auf dem ganzen Gebiet des Westjordanlandes und des Gazastreifens. Die
vor 1967 existierende Grenze („Grüne Linie“) würde die Grenze zwischen
Israel und Palästina.
Möglicherweise könnte ein begrenzter Gebietsaustausch stattfinden, der es
einigen Siedlungen hart an dieser Grenze erlauben würde, bestehen zu bleiben,
und bei dem die Palästinenser Gebiete im Negev bekämen. Alle anderen Siedler würden
abgezogen und die Siedlungen den Palästinensern intakt übergeben, damit sie
dort Flüchtlinge ansiedeln können.
Jerusalem muss die Hauptstadt beider Staaten werden – Ostjerusalem die
Hauptstadt Palästinas, Westjerusalem die Hauptstadt Israels. Wahrscheinlich wäre
es möglich, die Einheit der Stadt auf der Gemeindeebene zu bewahren. Wer
Jerusalem liebt – Moslem, Jude oder Christ –, muss das wollen. Der
Tempelberg muss der palästinensischen Souveränität unterstehen.
Das brenzligste Problem ist die Flüchtlingsfrage. Es handelt sich um Millionen,
die ihr Leben im Elend fristen, die meisten ohne jegliche Rechte, viele auch in
ständiger physischer Gefahr, etwa im Libanon.
Das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr ist moralisch und gesetzlich
unantastbar. Sie müssen das Recht haben, zwischen Wiedergutmachung und Rückkehr
zu wählen. Israel und die internationale Gemeinschaft müssen für eine gross
zügige
Wiedergutmachung bürgen. Natürlich erhalten alle Flüchtlinge automatisch die
palästinensische Bürgerschaft.
Man fragt sich, wie Shimon Peres es fertig bringt, als Sharons
Propagandaminister zu fungieren. Der viel gepriesene Friedensnobelpreisträger
ist nicht nur Sharons Feigenblatt, er ist auch dessen aktivster Fürsprecher in
der Welt.
Laut Volksmund ist Peres ein Mensch, der bereit ist, seine Grossmutter für
einen Tag an der Macht zu verkaufen, auch wenn es nur der Schein von Macht ist.
Sein Anteil am Osloer Abkommen von 1993 war nur ein Abstecher in einer langen
Laufbahn, die er als Falke begann und die er jetzt als Falke beendet. Er war der
Vater der israelischen Atomwaffenproduktion, ein Anreger des französisch-israelischen
Abenteuers gegen Ägypten 1957 (Suezkrieg), der Gründer der ersten israelischen
Siedlung inmitten der palästinensischen Bevölkerung des Westjordanlandes
(Kedumim).
Was Peres und Sharon gemeinsam haben, ist das Ziel eines homogenen jüdischen
Staates auf einem möglichst gross
en Gebiet Palästinas.
Bei Peres sind demografische Bedenken ausschlaggebend: Er möchte lieber auf
gewisse Gebiete „verzichten“, als weitere Millionen von Nicht-Juden zu
israelischen Staatsbürgern zu machen (schon jetzt ist jeder sechste Israeli ein
Palästinenser). Für Sharon sind die territorialen Bestrebungen
ausschlaggebend: Er will so viel Gebiet wie möglich annektieren, denkt aber
nicht daran, den palästinensischen Einwohnern die Staatsbürgerschaft zu gewähren.
Vielleicht hofft er insgeheim, die Palästinenser bei Gelegenheit loszuwerden.
Keiner der beiden glaubt an einen modernen, liberalen Staat nach amerikanischem
Muster, in dem die Staatsbürgerschaft nichts mit ethnischer oder religiöser
Herkunft zu tun hat. Sie sind Gefangene der alten, europäischen,
ethnozentrischen Auffassung, die in der Zeit herrschte, in der die zionistische
Bewegung entstanden ist.
Wie lange wird es dauern, bis in Israel eine neue Ideenwelt entsteht? Es ist die
Aufgabe einer neuen Friedensbewegung, an der meine Freunde und ich arbeiten.
Uri Avnery, 77, wurde von den Nazis 1933 aus seiner Heimatstadt
Hamburg vertrieben. In Palästina war er Mechaniker, Soldat und Journalist.
Knesset-Abgeordneter der Linken war er in den Jahren 1965 bis 1972 und 1979 bis
1981.
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