Was ist ein Madhhab? Warum ist es notwendig einer Rechtschule zu
folgen?
Nuh
Ha Mim Keller 1995 - Übersetzung
aus dem englischen Original: Yusuf Ferdin
Das
Wort Madhhab ist vom arabischen Wort für "Gehen" oder
"eingeschlagener Weg" abgeleitet und verweist auf die Meinung eines
Mujtahid, in Bezug auf eine Vielzahl von interpretativen Möglichkeiten der
Ableitung von Allahs Gesetzen aus den Primärtexten von
Qur'aan
und hadiith,zu einer bestimmten Fragestellung. In einer allgemeineren
Bedeutung repräsentiert ein Madhhab die in sich geschlossene Denkschule eines
bestimmten Mujtahid-Imams, wie Abu Hanifa, Malik, Shafi'I oder Ahmad. In der
jeweiligen Rechtsschule kamen danach viele erstrangige Gelehrte, die ihre
Ergebnisse prüften und ihre Arbeit verfeinerten und verbesserten. Die
Mujtahid-Imame waren also Interpreten, die den Qur'aan und die Sunnah in die
spezifischen Shar'Iah-Regeln des täglichen Lebens transformierten, was im
Allgemeinen als "figh", oder "Rechtswissenschaft"
bekannt ist. In Relation zu unserer Religion "D'In" ist die
Rechtswissenschaft "figh" nur ein Teil dieser, da das religiöse
Wissen, dass jeder von uns besitzt, aus drei Arten zusammengesetzt ist. Die
erste Art ist das allgemeine Wissen über Islamische Glaubensgrundsätze, wie
die Einheit Allahs, der Glaube an Seine Engel, Bücher, Gesandten und das
Prophetentum von Muhammad (Allahs Segen und Heil auf ihm) und Ähnliches.
Jeder von uns kann dieses Wissen direkt aus dem Qur'aan und den Ahad'Ith
herleiten. Das Gleiche gilt auch für die zweite Art von Wissen, nämlich die
allgemeinen ethischen Prinzipien im Islam, wie Gutes zu tun, Schlechtes zu
vermeiden, mit Anderen in guten Aufgaben zu kooperieren, und so weiter. Jeder
Muslim kann diese allgemeinen Prinzipien, die den gröss
ten und wichtigsten
Teil seiner Religion bilden, von Qur'aan und hadiith selbstständig
herausnehmen.
Die
dritte Art des Wissens ist das präzise Verständnis von bestimmten göttlichen
Befehlen und Verboten, die die Shar'Iah bilden. Aufgrund der Beschaffenheit
und der blosen Anzahl der einbezogenen Qur''anund Hadiith Texte, unterscheiden
sich hier die Menschen in ihrer Gehlehrsamkeit und geistigen Fähigkeit bezüglich
des Verständnisses und der Ableitung von allgemein gültigen Gesetzen. Aber
allen von uns wurde - auf Allahs Verlangen - befohlen, seine Gesetze in
unserem Leben umzusetzen, und deshalb unterteilen sich die Muslime in zwei
Gruppen. Diejenigen, die das von sich aus tun können, das sind die
Mujtahid-Imame, und diejenigen, die das mittels Anderer tun müssen, das heisst,
die einem Mujtahid-Imamfolgen, in Übereinstimmung mit Allahs Wort in der Sure
"An-Nahl": >>....
also fragt die Leute der Erinnerung, wenn ihr es nicht gewusst habt << (Qur'aan 16:43),
und
in der Sure "An-Nisa": >>...und
wenn sie es zum Gesandten zurückbringen würden und zu den Zuständigen für
die Angelegenheit unter ihnen, bestimmt hätten es diejenigen gewusst, die es
von ihnen herausfinden können < <Qur'aan 4:83), in
welcher die Phrase "die es von ihnen herausfinden können" die Wörter
"alladh'Ina yastanbitûnahu minhum" ausdrückt, die auf diejenigen
hinweist, die die Kapazität haben, direkt aus den Quellen schlusszufolgern,
was auf Arabisch Istinb'at heisst. Dieses und andere 'ay'at und Ahad'Ith
verpflichten den Gläubigen, der nicht auf dem Niveau von Istinb'at ist, das
heisst, der nicht direkt Regelungen aus Qur'aan und Hadiith ableiten kann, in
solchen Entscheidungen jemanden zu fragen, der auf diesem Niveau ist, und ihm
zu folgen. Es ist nicht schwer zu begreifen, warum Allah
uns verpflichtet hat,
Spezialisten zu befragen. Denn wenn jeder von uns persönlich dafür
verantwortlich wäre, all die Primärquellen, bezogen zu jeder beliebigen
Frage, zu bewerten, würde ein lebenslanges Studium wohl kaum dafür
ausreichen. So müsste man entweder seinen Lebensunterhalt, oder seinen Diin aufgeben.
Deshalb sagt Allah
in der Sure At-Tauba im Zusammenhang von Jih'ad:.
>>...Die
Gläubigen dürfen nicht alle auf einmal ausziehen. Warum rückt dann nicht
aus jeder Gruppe nur eine Abteilung aus, auf dass sie (die Zurückbleibenden)
ihre (ausgezogenen) Leute belehren, damit sie sich in acht nähmen (Qur'aan
9:122).<<
Die
Aufrufe, die wir heute über das Folgen von Qur'aan und Sunnah anstatt des
Folgens der Rechtsschulen hören, sind fehl am Platz, da jeder damit übereinstimmt,
dass wir dem Qur'aan und der Sunnah des
Propheten (a. s.) folgen müssen. Der springende Punkt ist, dass der Prophet
(a. s.) nicht mehr am Leben ist und uns persönlich nicht mehr unterrichten
kann. Alles was wir von ihm haben, sei es Hadiithoder Qur'aan, wurde
uns von Islamischen Gelehrten übermittelt. Deshalb ist es keine Frage,
ob wir unseren D'In von Gelehrten oder nicht von Gelehrten beziehen, sondern
von welchen Gelehrten. Der Grund, wieso es Rechtsschulen im Islam gibt, ist
folgender: Die vortrefflich gelehrten Mujtahid-Imame - zusammen mit den
traditionellen Gelehrten, die in jeder Rechtsschule nachfolgten und die Arbeit
der Imame beurteilten und verbesserten - haben den Anforderungen einer
wissenschaftlichen Untersuchung entsprochen und gewannen somit das Vertrauen
der denkenden und praktizierenden Muslime in allen Jahrhunderten, in denen der
Islam Grösse und Ruuhhm ausstrahlte. Der Nutzen der Rechtsschulen in der
Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft liegt darin, dass sie tausende
von korrekten, wissenschaftlich basierenden Antworten auf Fragen der Muslime
bieten, wie man Allah
gehorcht. Die Muslime haben erkannt, dass das Folgen
einer Rechtsschule gleichbedeutend ist mit dem Folgen eines übergeordneten
Gelehrten, der - bezogen zu jeder Streitfrage, zu der er Urteile abgab - nicht
nur ein umfassendes Wissen von Qur'aan und hadiith-Texten hatte, sondern der
auch in einer Zeit lebte, die ein Jahrtausend näher zum Propheten (a. s.) und
seinen Begleitern war, in der Taqw'a oder "Gottesfurcht" die
Normalität darstellten. Beide Bedingungen stehen im argen Kontrast zu der
Gelehrsamkeit, die heute erhältlich ist.
Es
scheint, dass der Ruf nach einer Rückkehr zu Qur'aan und Sunnah ein
attraktiver Slogan wäre, doch er ist in Wirklichkeit ein gross
er Rückschritt.
Ein Aufruf, Jahrhunderte der detaillierten, fallgenauen Islamischen
Gelehrsamkeit der Induktion bezüglich der Gebote und Verbote von Qur'aan und
Sunnah aufzugeben, eine hochentwickelte, interdisziplinäre Leistung der
Mujtahids, Hadiithgelehrten, Qur'aan-Exegeten, Lexikographen und anderer
Meister der Islamischen Rechtswissenschaften. Die Früchte dieser Forschung,
die Islamische Shar'Iah>, aufzugeben um zeitgenössischen Sheikhs zu
folgen, die - ungeachtet ihrer Ansprüche - nicht auf dem Niveau ihrer Vorgänger
sind, wäre ein Austauschen von etwas gut Erprobten mit etwas bestenfalls
Versuchten.
Der
Aufruf, nur der Shar'Iah und nicht einer bestimmten Madhhab zu folgen, ist,
als wolle jemand bei einem Autohändler ein Auto kaufen, der darauf besteht,
dass es sich bei diesem Auto um keine bekannte Marke, sei es ein Volkswagen,
ein Rolls-Royce oder ein Chevrolet, handeln dürfe, sondern er wolle
"schlicht und einfach ein Auto" kaufen. So eine Person weiss
einfach
nicht, was sie will. Das Auto als Ware wird nicht als blosses Auto
hergestellt, sondern in Form einer bestimmten Marke. Der Händler wird mit
einem müden Lächeln zu erklären versuchen, dass hochentwickelte Produkte
mit hochentwickelten Produktionsmitteln hergestellt werden, aus Fabriken
mit Arbeitsteilung für Forschung, Produktion und Montage, die sich getrennt
mit den vielen Teilen des fertigen Produkts befassen. Es liegt in der Natur
der Sache, dass eine kollektive menschliche Anstrengung etwas bei weitem
besser produzieren kann, als jeder von uns es allein improvisieren könnte,
selbst wenn man ihm eine Schmiede, Werkzeug und fünfzig Jahre, oder sogar
tausend geben würde. Und so ähnlich ist es mit der Shar'Iah, die
sicherlich komplexer, als jedes Auto ist, weil sie sich mit der Welt des
menschlichen Handelns und einem ausgedehnten interpretativen Bereich von
heiligen Texten beschäftigt. Deshalb ist das Aufgeben der imposanten
Gelehrsamkeit der Madhhabs>, die Qur'aan und Sunnah in ein wohl
durchdachtes System transformiert haben, zugunsten der Übernahme des Verständnisses
eines zeitgenössischen Schaikhs, nicht nur eine verfehlte Ansicht. Es ist so,
als würde man einen Mercedes für ein Go-cart eintauschen.
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