Der Terrorakt der NATO-Jäger vor 31
Jahren kam vor kurzem erneut in die Schlagzeilen. Am 21. September
berichtete die römische Repubblicca, ein Gericht in Palermo habe die
italienische Regierung verurteilt, den Angehörigen der 81 Opfer des
Absturzes der italienischen Verkehrsmaschine eine Entschädigung von
100 Millionen Euro zu zahlen. Die in einem Verband der
Hinterbliebenen zusammengeschlossenen Verwandten hatten
jahrzehntelang nicht nur um materielle Entschädigung gekämpft,
sondern vor allem auch um die Entlarvung eines Verbrechens von CIA
und NATO, das die italienischen Behörden, wie es im Urteil des
Gerichts jetzt (wenn auch verharmlosend) heisst, durch
»Unterlassungen« deckten und vertuschten.
Wörners Vertuschung
Was geschah an jenem Abend des 27. Juni
1980? Um 20.59 Uhr stürzte die Passagiermaschine DC 9 McDonnell
Douglas der italienischen Fluggesellschaft Itavia unweit der
nördlich von Sizilien liegenden kleinen Insel Ustica ins
Thyrrenische Meer. Alle 81 Insassen kamen ums Leben. Wie später ans
Licht kam, befanden sich zu dieser Zeit zirka 30 Jäger,
Radarflugzeuge, Flugzeugträger und U-Boote der NATO in diesem Gebiet
im Einsatz. Aus Berichten italienischer und US-Medien wurde schon
bald bekannt, dass der libysche Staatschef Muammar Al-Ghaddafi Ziel
des im Rahmen eines NATO-Manövers geführten Angriffs war. Er befand
sich an Bord einer sowjetischen Tupolew zur selben Zeit über Ustica.
Seine Maschine dreht aber überraschend ab. Es sickerte durch, dass
proarabische Kreise in Rom Kenntnis von dem Anschlagsplan erhalten
hatten und Ghaddafi in letzter Minute warnten. Das Attentat sollte
in Tripolis einen Putsch auslösen. Der die Rakete abschiess
ende Pilot
hatte die DC 9 für die Tupolew gehalten, da sich beide Flugzeuge im
Profil ähnelten.
In den Medien tauchten sofort Berichte
auf, linke Terroristen hätten eine Bombe zur Explosion gebracht.
Dann hiess es, Abnutzungserscheinungen, Materialermüdung und
schlechte Wartung der Maschine hätten das Unglück herbeigeführt. Die
Itavia wies diese Anschuldigungen zurück. Sie legte
Radaraufzeichnungen des römischen Flughafens Fiumicino vor, auf
denen ein fliegendes Objekt zu erkennen war, bei dem es sich um ein
Jagdflugzeug gehandelt haben konnte, das eine Rakete auf die DC 9
abfeuerte. Die NATO und ihre Geheimdienste, allen voran die CIA,
erklärten sofort, »sämtliche Maschinen seien am Boden, alle Raketen
in den Hangars« gewesen.
Über ein Jahrzehnt wurden diese Lügen aufrechterhalten. Noch im März
1989 erklärte das Pentagon, dass »zur Zeit des Unglücks weder Schiffe
noch Flugzeuge der US-Marine oder -Luftwaffe in oder über dem
Thyrrenische Meer anwesend waren. In Rom verbreitete US-Botschafter
Richard Gardner denselben Standpunkt. Manfred Wörner (BRD), von 1982
bis 1988 Verteidigungsminister und von 1988 bis zu seinem Tode 1994
NATO-Generalsekretär, deckte das Verbrechen ebenfalls und beteuerte
laut Spiegel 14/1991 »die Unschuld der NATO-Piloten«.
Zeugen beseitigt
In einer von den Geheimdiensten
inszenierten Desinformationskampagne wurde die angebliche
Bombenexplosion jahrelang am Kochen gehalten. Der Standpunkt der
Itavia wurde bestätigt, als 1987 endlich das in etwa 3000 Meter
Tiefe liegende Wrack der DC 9 gehoben wurde. Im Inneren der Maschine
waren keine Spuren von Flammen zu erkennen, was eine Bombenexplosion
ausschloss. Einen Raketeneinschlag bestätigte dagegen die Tatsache,
dass eines der beiden Triebwerke völlig geschmolzen und im Frachtraum
Einschläge zu erkennen waren. Bezeichnenderweise wurde der
Voicerecorder, der die letzten Meldungen des Piloten aufgezeichnet
haben musste, von der französischen Bergungsgesellschaft IFREMIR
angeblich nicht gefunden. Das Unternehmen, das bereits mit den
Amerikanern Teile der 1912 gesunkenen Titanic geborgen hatte, wurde
beschuldigt, den Fund unterschlagen zu haben.
Nachdem am 28. August 1988 während einer Flugschau über der
US-Luftwaffenbasis Ramstein in Rheinland-Pfalz zwei Piloten der
italienischen Kunstflugstaffel »Frecce tricolori« zusammenstiessen,
in die Menge stürzten und es 70 Tote und 450 zum Teil schwer
Verletzte gab, mussten in Italien die jahrelang verschleppten
Ermittlungen endlich ernsthaft betrieben werden. Es galt als sicher,
dass zumindest eine der italienischen Maschinen manipuliert worden
war. Die beiden Piloten waren am 27. Juni 1980 als Jagdflieger über
Ustica im Einsatz und nach der Flugschau zur Vernehmung vorgeladen.
Es kam ans Licht, dass bis dahin über ein Dutzend Zeugen, alle
Mitwisser der Umstände des Absturzes, auf mysteriöse Weise ums Leben
gekommen bzw. – wie in italienischen Medien immer wieder offen
geäussert wurde – umgebracht worden waren.
Ein ungeheuerliches Verbrechen wurde mit der Verschleppung der Such-
und Bergungsarbeiten der DC 9 begangen. Obwohl die Absturzstelle
genau bekannt war, wurden die Bergungskommandos in ein weit abseits
liegendes Gebiet geschickt. Die »Rettungsversuche« begannen erst
zehn Stunden nach dem Absturz. Eindeutiges Ziel war, es sollte keine
Überlebenden geben, die aussagen konnten, dass die Maschine von einer
Rakete getroffen wurde. Das Mailänder Nachrichtenmagazin Panorama
berichtete 1989, die DC 9 sei von dem Piloten aufs Wasser aufgesetzt
worden und habe sich noch einige Stunden über Wasser gehalten. Sie
sei erst gesunken, nachdem ihr Rumpf im Morgengrauen von
Froschmännern eines britischen U-Bootes gesprengt wurde. Panorama
zitierte einen Zeugen aus Militärkreisen, dass es bis zu dieser
Sprengung noch Überlebende gegeben habe.
Den Durchbruch in den Ermittlungen erzielte – nachdem zuvor vier
Untersuchungsrichter das Handtuch geworfen hatten oder dazu gebracht
worden waren – der in Terrorfragen erfahrene Staatsanwalt Rosario
Priore. Er stellte Tonbänder der Radarzentrale sicher, die dem Chef
der CIA-Residentur in Rom, Duane Clarridge, ausgehändigt worden
waren. Er fand heraus, dass der US-Botschafter in Rom bereits einen
Tag nach dem Abschuss der DC 9 einen »Sonderstab Ustica« gebildet
hatte, der alle verfügbaren Beweise sicherstellte und unter
Verschluss nahm. Exverteidigungsminister Lagorio sagte aus, dass alle
Fäden bei den Geheimdiensten zusammengelaufen seien, welche die
Ermittlungen in falsche Richtungen lenkten. Der General räumte ein,
dass auch Zeugen »beseitigt« worden seien.
Milde Urteile
Staatsanwalt Priore bestätigte in
seiner Anklage die in der Öffentlichkeit seit langem bekannten
Enthüllungen, dass die DC 9 von einem NATO-Jäger abgeschossen wurde.
Dass der Todesschütze ein US-Pilot war, konnte er nicht nachweisen.
In seinem 5000 Seiten umfassenden Abschlussbericht verdeutlichte er
jedoch, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach ein Amerikaner war.
Priore erhob schliess
lich Anklage gegen neun italienische Generäle
und Offiziere wegen Hochverrats, Irreführung der Behörden,
Beweisunterdrückung und Zeugenbeeinflussung. Eine Anklage wegen
Mittäterschaft bei der Ermordung oder zumindest des Totschlags der
81 Insassen der DC 9 wurde nicht zugelassen, auch nicht eine wegen
Zeugenbeseitigung. Und natürlich kamen auch die eigentlichen
Drahtzieher des Verbrechens – die Verantwortlichen aus CIA,
Militärischem Abschirmdienst der BRD und anderen westlichen
Geheimdiensten sowie der NATO, unter ihnen deren damaliger
Generalsekretär Wörner – nicht vor die Schranken des Gerichts.
Die Richtersprüche fielen vergleichsweise mild aus, die Verurteilten
kamen bald wieder auf freien Fuss, ihre Karrieren litten nicht. Der
verurteilte General Lamberto Bartolucci stieg später sogar zum
Generalstabschef des Verteidigungsministers auf.