Es ist eine Schande
Von Shulamit Aloni
Copyright © FR-online.de 12.06.2009 Uhr
Erscheinungsdatum 13.06.2009
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Vor nicht allzu langer Zeit, als Rabbi Meir Kahane seine rassistischen Reden
schwang, bekam ich von dem mittlerweile verstorbenen Schriftsteller und
Journalisten Amos Elon die Kopie eines Briefes, den Lord Rothschild im
August 1902 an Herzl geschrieben hatte. Darin erklärt Rothschild, warum er
sich weigert, die Gründung eines jüdischen Staates im Lande Israel zu
unterstützen. Er schreibt, "der Gedanke an die Gründung einer jüdischen
Kolonie erregt mir schlichtweg Grauen; eine solche Kolonie wäre ein Staat im
Staate; es wäre ein Ghetto mit den Vorurteilen des Ghettos; es wäre ein
kleiner und kleingeistiger jüdischer Staat, orthodox und engstirnig, der die
Christen und Nichtjuden ausschliesst."
Dennoch und trotz Erscheinungen wie Kahane hielt sich hier über Jahre die
Hoffnung, dass Rothschilds düstere Prognose sich nicht erfüllen würde; dass
Israel tatsächlich "seinen Bürgern gleiche gesellschaftliche und politische
Rechte zusichert, ungeachtet ihrer Religion, Rasse und des Geschlechts" und
"die Freiheit von Religion, Gewissen, Sprache, Bildung und Kultur
garantiert", so wie es in der israelischen Unabhängigkeitserklärung steht.
Offenkundig rassistische Gesetze
Zur Person
Shulamit Aloni kam 1928 in Tel Aviv als Kind polnischer Einwanderer zur
Welt. Früh trat die Rechtsanwältin der jüdischen Selbstschutzorganisation
Hagana bei. Sie kämpfte im Unabhängigkeitskrieg und war später
Erziehungsministerin im Kabinett Rabin.
1996 zog sie sich aus der Parteipolitik zurück, setzt sich seitdem für einen
Dialog mit den Palästinensern und die Rückgabe besetzter Gebiete ein und
kämpft für einen säkularen Staat Israel.
Wir haben den Text der israelischen Tageszeitung Haaretz entnommen
Es ist einige Zeit vergangen, und Kahane hat viele Nachfolger gehabt - nicht
nur aus der gierigen und rücksichtslosen Masse, sondern auch aus der kleinen
Gruppe der "gewählten Volksvertreter" von Knesset und Regierung.
Letztere ist gerade damit beschäftigt, offenkundig rassistische Gesetze zu
verabschieden und Polizeikommandos loszuschicken, um palästinensisch
organisierte internationale Kulturveranstaltungen zu stören, weil diese
Regierung davon ausgeht, dass die Araber des Landes Israel, die
einheimischen Palästinenser, Menschen zweiter Klasse sind. Die Verfasser
dieser Gesetze glauben jedenfalls nicht, dass den Arabern Menschenrechte
zustehen, ganz zu schweigen vom Recht auf ein eigenes kulturelles und
intellektuelles Leben oder vom Recht auf Wohnraum oder gar Grundbesitz, weil
ja vor Tausenden von Jahren Gott dieses Land dem auserwählten Volk und
seinen Nachkommen zugesprochen hat.
Es ist äusserst bedauerlich und beschämend, dass alles, was Lord Rothschild
vorausgesagt hat, inzwischen eingetreten ist. Nicht einmal in unseren
finstersten Träumen und den schlimmsten Zeiten seit dem Kampf um die
Staatsgründung hätten wir uns vorstellen können, dass die Anhänger von Zeev
Jabotinsky hier Angst und Schrecken durch eine rassistische Gesetzgebung
verbreiten würden; dass sie durch die Zerstörung des Gerichtssystems
versuchen würden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte auszuhebeln -
genau die Dinge, die in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar sind
und jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind zugänglich sein müssen, ungeachtet
ihrer Herkunft, Rasse, Religion oder des Geschlechts.
Seit 42 Jahren sind wir die brutalen Besatzer und Unterdrücker eines Landes,
das uns nicht gehört. Müssen wir denn wirklich zu räuberischen Kosaken
werden, Bäume und Felder zerstören, Frauen, Kinder und Alte drangsalieren,
um unsere eigene Freiheit zu verteidigen? "Wir haben dieses Land, wir haben
es", heisst es in einem Lied, aber es sollte lauten: "Wir haben die Macht,
wir haben sie, wir haben das Geld, wir haben es, und wir dürfen alles, alles
dürfen wir", nämlich eine ganze Bevölkerung aushungern, einsperren und mit
Luftangriffen, Streubomben und weiss
em Phosphor schliess
lich vernichten. Weil
wir die Herren des Landes sind und Gott uns auserwählt hat. Es ist eine
Schande.
"Ein einzigartiges Volk", schrieb David Ben Gurion. Und was hat uns diese
Einzigartigkeit gebracht? Statt eines jüdischen und demokratischen Staates
haben wir jetzt einen jüdischen Staat, in dem religiöser Fanatismus herrscht
und der die Reinheit der Rasse vorschreibt. Wir haben eine Demokratie im
primitivsten Sinn, wo es nicht um die Bewahrung der demokratischen Werte
geht, sondern um die Herrschaft des Demos, des Pöbels, der aus Israel eine
totalitäre Ethnokratie machen will.
Ein Hoch auf Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Aussenminister Avigdor
Lieberman, die gerade dabei sind, alles, was wir aufgebaut haben, zu
zerstören, alles, wovon wir geträumt und alles, wofür wir gekämpft haben.