Dieser Krieg ist illegal
US-Völkerrechtler Boyle SPIEGEL ONLINE - 31.
Oktober 2001, 13:56
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,164785,00.html
Der renommierte amerikanische Völkerrechtler Francis Boyle wirft der
US-Regierung vor, mit den Angriffen auf Afghanistan gegen die Resolution des
Uno-Sicherheitsrates zu verstoßen. Selbst wenn es Beweise für Bin Ladens Schuld
gäbe, müsste Bush nach dem Völkerrecht mit den Taliban über eine Auslieferung
verhandeln, sagt Boyle im Interview mit SPIEGEL ONLINE.
SPIEGEL ONLINE: Herr Boyle, ist das bestehende Völkerrecht überhaupt in
der Lage, Anschläge wie die auf New York und Washington zu beurteilen?
Boyle: Auf jeden Fall. Die Angriffe haben eindeutig die Montreal-Konvention
von 1971 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der
Zivilluftfahrt verletzt, die sowohl die USA als auch Afghanistan sowie über 150
andere Staaten unterzeichnet haben. Dieses Abkommen bietet einen exzellenten
juristischen Rahmen, um auf diese Anschläge zu reagieren.
SPIEGEL ONLINE: Verträge klingen immer gut. Aber brauchen wir nicht -
angesichts dieser neuen Dimension des Terrors - eine internationale Organisation
zu Bekämpfung des Terrorismus?
Boyle: Ich würde nicht von einer neuen Dimension sprechen. Dieses Problem
gibt es seit den sechziger Jahren. Neu ist nur die gross e Zahl der Opfer in den
USA. Diese Zahl ist ohne Zweifel schrecklich. Aber das Völkerrecht kommt mit
solchen Anschlägen zurecht - vorausgesetzt die Regierungen stufen sie als
terroristische Aktionen ein. Wenn wir sie dagegen als Kriegsakt bezeichnen,
geben wir Kriminellen eine Würde, die ihnen normalerweise nicht zuteil würde.
SPIEGEL ONLINE: US-Präsident George W. Bush hat die Anschläge als "Akt
des Krieges" bezeichnet und nicht als Terror-Aktion.
Boyle: Das waren eindeutig terroristische Akte, wie sie im amerikanischen
Gesetz definiert sind.
SPIEGEL ONLINE: Was ist denn die Definition
eines terroristischen Aktes?
Boyle: Dabei handelt es sich um nichtstaatliche Akteure, die Gewalt gegen
zivile Objekte oder gegen Zivilisten ausüben mit der Absicht, die Bevölkerung
oder die Regierung in Angst zu versetzen.
SPIEGEL ONLINE: Aber im Völkerrecht gibt es
eine solche Definition nicht.
Boyle: Es gibt keine von allen Seiten akzeptierte Definition. Aber die
internationale Gemeinschaft hat sich darauf verständigt, dass terroristische
Anschläge illegal sind und als kriminelle Handlungen eingestuft werden sollen.
Neben der Montreal-Konvention gibt es zum Beispiel das "Übereinkommen zur
Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus" von 1999 und die "Konvention gegen
Geiselnahme" aus dem Jahr 1979.
Ist die Vergeltung in dieser Form gerechtfertigt? Diskutieren Sie
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SPIEGEL ONLINE: Warum hat Bush die Anschläge
dann als kriegerischen Akt gewertet?

Francis Boyle
ist Professor für Völkerrecht an der University of Illinois. Der
Harvard-Absolvent verteidigte den Staat Bosnien-Herzegowina vor
dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und berät unter
anderem die Menschenrechtsorganisation Amnesty International.

US-Präsident Bush am Tag der Anschläge: "Eindeutig
terroristische Akte"
DPA

AFP/DPA
Oklahoma-Attentäter McVeigh: Rechtliche Mittel, keine militärische |
|

Uno-Sicherheitsrat: "Bush wollte eine ähnliche Resolution wie sein Vater
1990"

US-Aussenminister Powell: "Nicht einmal Indizien gegen Bin
Laden"

Serbische Luftabwehr im Kosovo-Krieg: "Kein Recht für die
Bombardierungen"

Taliban-Aussenminister Muttawakil: "Die Taliban haben sich an
internationales Recht gehalten
DPA |
Boyle: Auf der ersten Pressekonferenz nannte er sie noch terroristische
Akte. Dadurch unterlägen sie der Durchsetzung nationalen und internationalen
Rechts. So wurde auch der Anschlag in Oklahoma behandelt, den Timothy McVeigh
1995 verübte. Genauso eingestuft wurden auch die Anschläge auf die beiden US-
Botschaften in Kenia und Tansania. Aber nach Beratung mit Außenminister Powell
entschied Bush, die Anschläge einen "Act of War" zu nennen und mit militärischen
Mitteln zu reagieren.
SPIEGEL ONLINE: Aber der amerikanische
Kongress hat dem zugestimmt!
Boyle: Ja, leider. Nachdem Bush seine Rhetorik eskaliert und die Anschläge
mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Jahre 1941 gleichgesetzt hatte,
schloss sich der Kongress dem Präsidenten an und autorisierte ihn, militärische
Mittel einzusetzen. Diese Resolution war sogar schlimmer als die Tonkin Gulf
Resolution, die Präsident Johnson 1964 erwirkte, um den Krieg in Vietnam zu
führen.
SPIEGEL ONLINE: Auch der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen hat Bush freie Hand gegeben.
Boyle: Das stimmt nicht. Die erste Resolution des Sicherheitsrats vom 12.
September sprach von einem terroristischen Anschlag. Es war nie die Rede von
einem bewaffneten Angriff. Erst dadurch wäre Artikel 51 der Uno-Charta zum
Tragen gekommen...
SPIEGEL ONLINE: ...der jedem Staat das Recht
auf Selbstverteidigung einräumt.
Boyle: Bush versuchte die Zustimmung für
militärische Gewalt zu bekommen und scheiterte. Er wollte vom
Sicherheitsrat eine ähnliche Resolution bekommen wie sein Vater im
Golfkrieg. Bush senior wurde damals ermächtigt, zur Vertreibung des
Iraks aus Kuweit "alle notwendigen Mittel" zu benutzen. Am 28.
September scheiterte Bush erneut. Am 7. Oktober schickte dann der
amerikanische Botschafter bei der Uno, John Negroponte, einen Brief
an den Sicherheitsrat, der mitteilte, dass die USA ihr Recht auf
Selbstverteidigung in Anspruch nehmen. Aber dies ist ganz eindeutig
kein Fall von Selbstverteidigung. Nach den Regeln des Völkerrechts
ist dieser Krieg illegal.
SPIEGEL ONLINE: Warum nicht?
Boyle: Es gibt keinen Beweis dafür, das die Regierung in Afghanistan die
Anschläge in New York autorisierte oder billigte. Die Angriffe auf Afghanistan
sind bestenfalls Vergeltung.
SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt doch wohl
Beweise, dass Bin Laden die Anschläge in Auftrag gegeben hat. Und er
handelte schliess lich von afghanischem Territorium aus.
Boyle: Dafür gibt es keinen Beleg.
Aussenminister Powell versprach ein so genanntes "White Paper", in
dem er die Beweise darlegen würde. Bush untersagte ihm das. Aber in
einem Interview mit der "New York Times" sagte Powell, dass es gegen
Bin Laden nicht einmal Indizien gebe. Das ist ein Rechtsfall, der
nicht einmal vor einem normalen Strafgericht standhalten würde.
SPIEGEL ONLINE: Aber die Nato-Staaten haben
die Unterrichtung durch den Sondergesandten Taylor als Beweis
akzeptiert.
Boyle: Nach Aussage eines westlichen Diplomaten legte Taylor in der Sitzung
des Nato-Rates keinerlei Beweise vor, dass Bin Laden die Anschläge anordnete
oder die Taliban davon wussten. Beweise waren auch nicht wichtig, weil sich Bush
ohnehin schon für den Krieg entschieden hatte.
SPIEGEL ONLINE: Aber spielt das denn eine
Rolle? Der Nato-Rat akzeptierte den US-Bericht und rief den
Bündnisfall aus.
Boyle: Die Nato tut stets, was die USA von ihr verlangen. Die Allianz
wurde gegründet, um Europa gegen einen Angriff der Sowjetunion zu verteidigen.
Mit dem Kollaps des Warschauer Paktes war die Existenzgrundlage der Nato
verschwunden. Bush senior brachte den Nato-Rat dazu, zwei neuen
Legitimationsgründen für die Nato zuzustimmen. Sie sollte einerseits als eine
Art Polizei in Osteuropa dienen. Andererseits sollte sie als
Interventions-Truppe im Nahen Osten fungieren, um Ölreserven zu schützen.
SPIEGEL ONLINE: Aber beim Washingtoner Gipfel
1999 schlossen die Nato-Mitgliedsländer auch den Kampf gegen den
Terrorismus in ihre Ziele ein.
Boyle: Der Nato-Vertrag wurde niemals um dieses Ziel erweitert. Der Vertrag
wurde ursprünglich auf Basis von Artikel 51 der Uno-Charta geschlossen. Also
kann der Bündnisfall nur eintreten im Falle eines bewaffneten Angriffs eines
Staates auf ein Nato-Mitglied. Deshalb hatte die Nato auch kein Recht,
Jugoslawien zu bombardieren, weil Serbien die Nato vorher nicht angegriffen
hatte.
SPIEGEL ONLINE: Wie hätte denn die
US-Regierung reagieren sollen?
Boyle: Sie hätten auf der Basis der Montreal Sabotage Convention
Verhandlungen eröffnen sollen. Das passierte zum Beispiel mit Libyen im
Lockerbie-Fall. Vor dem 11. September hat die US-Regierung ja auch mit den
Taliban über eine Auslieferung Bin Ladens verhandelt wegen der Anschläge auf die
US-Botschaften in Afrika und wegen der inhaftierten Shelter-Now-Mitarbeiter. Die
Taliban waren damals bereit, Bin Laden an ein Islamisches Land auszuliefern und
auf Basis der Islamischen Scharia anzuklagen. Nach dem 11. September machten sie
weitere Konzessionen: Bin Laden könnte an ein neutrales Land ausgeliefert
werden. Sie bestanden nicht mehr länger auf einem Islamischen Gerichtsverfahren,
forderten aber Beweise. Die Taliban haben sich an die Anforderungen des
internationalen Rechts gehalten, Bush leider nicht.
SPIEGEL ONLINE: Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass die Angebote der
Taliban ernst gemeint waren?
Boyle: Wie gesagt: Vor dem 11. September haben die USA auch mit den
Taliban verhandelt. Und 1996 schickte Präsident Bill Clinton einen Diplomaten
nach Afghanistan um über die Anerkennung der Taliban-Regierung zu verhandeln.
SPIEGEL ONLINE: Wenn das Völkerrecht so
eindeutig ist - warum ignorieren die Vereinigten Staaten es dann?
Boyle: Ich glaube, dass sich die US-Regierung bereits vor dem 11. September
für einen Krieg gegen Afghanistan entschieden hatte.
SPIEGEL ONLINE: Aber mit welchem Ziel?
Boyle: Die Öl- und Erdgasreserven in Zentralasien sind die zweitgröss ten
nach denen im Persischen Golf. Nach dem Kollaps der Sowjetunion nahm die
US-Regierung sofort diplomatische Beziehungen zu den zentralasiatischen Staaten
auf. Politiker wie der ehemalige Verteidigungsminister Caspar Weinberger sagten,
dass die Ölfelder Zentralasiens zum vitalen Interesse der Vereinigten Staaten
gehören...
SPIEGEL ONLINE: ...und die amerikanische
Ölgesellschaft Unocal verhandelte mit den Taliban über eine Pipeline
aus Zentralasien durch Afghanistan nach Pakistan...
Boyle: Die US-Regierung wollte nicht, dass irgendeine Pipeline durch
Russland oder Iran laufen würde. Die billigste und einfachste Route läuft durch
Afghanistan. auss erdem gibt es dort selbst auch Ölreserven. Öl und Gas sind die
wahren Interessen der US-Regierung, nicht Bin Laden.
Das Interview führte
Christoph Schult.