KEIN REZEPT FÜR AFGHANISTAN
Die Taliban, Pakistan und der Westen Quelle: Le Monde Diplomatique 15.6.2001 Von GILLES DORRONSORO *
NIRGENDWO auf der Welt wird das Islamische
Recht so rigoros exekutiert wie in Afghanistan: Frauen dürfen weder arbeiten
noch Auto fahren, unlängst wurden historische Buddhastandbilder gesprengt,
Hindus müssen einen daumengross
en gelben Fleck auf der Kleidung tragen. Das
Land ist diplomatisch und wirtschaftlich isoliert. Doch das Embargo des
UN-Sicherheitsrats trifft vor allem die Bevölkerung, die ohnehin schon unter
den Folgen der Dürre leidet, während die ultrafundamentalistischen Taliban
sich weiter radikalisieren. Damit haben die westlichen Regierungen die Suche
nach einer politischen Lösung faktisch aufgegeben, obwohl sie wissen, dass ein
militärischer Sieg über die Taliban unmöglich ist.
* Autor von "La révolution afghane, des
communistes aux Taliban", Paris (Karthala) 2000.
Lasst die Taliban gewinnen, und bestraft Afghanistan mit Isolation! Diese
widersprüchliche Doppelparole kennzeichnet, jenseits der moralischen
Proklamationen über die Menschenrechte und der Suche nach einer politischen Lösung,
die Politik des Westens gegenüber Kabul. Seit 1989 die sowjetischen Truppen
abzogen und 1992 die Regierung gestürzt wurde, spielt Afghanistan für die
internationale Politik eine immer unwichtigere Rolle.
Die externen Hauptakteure im Bürgerkrieg zwischen 1992 und 1996 waren
regionale Mächte, nämlich Pakistan, Iran und Russland. Deren Konfrontation
trug dazu bei, dass 1994 die Taliban auf die Bühne traten, eine
ultrafundamentalistische Bewegung aus dem Süden des Landes. Dank massiver militärischer
Unterstützung durch Pakistan, aber auch eines gewissen Rückhalts in der Bevölkerung,
gelang es den Taliban, alle Städte, im September 1996 schliess
lich auch Kabul
zu erobern.
Die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen des Taliban-Regimes stossen immer
wieder auf heftige internationale Kritik: von der Unterdrückung der Frauen über
die Zerstörung der Buddhastatuen bis hin zur jüngst angeordneten
Kennzeichnungspflicht für Nichtmuslime. Dabei hatten die USA ursprünglich mit
den Taliban sympathisiert. Dennoch ist die verbreitete Auffassung falsch, wonach
die amerikanische Unterstützung unmittelbar mit dem Vorhaben der US-Erdölgesellschaft
Unocal zusammenhing, die den Bau einer Ferngasleitung durch Afghanistan plante.
Überzeugender ist die Hypothese, dass die USA sich gewohnheitsmässig an der
Haltung Pakistans orientierten und dass sie auf die Wiederherstellung der
Einheit des Landes hinwirken wollten.(1)
Die USA entzogen den Taliban ihre Unterstützung, nachdem der aus
Saudi-Arabien stammende Islamistische Milliardär Ussama Bin Laden, dem
zahlreiche Attentate gegen US-Einrichtungen angelastet werden, in Afghanistan
Unterschlupf gefunden hatte; die Menschenrechtsverletzungen durch das Regime in
Kabul spielten bei dieser Entscheidung nur eine marginale Rolle. Diesen
Kurswechsel markierte die Bombardierung der Ausbildungslager der radikalen
Islamisten in Afghanistan, die als Vergeltungsmassnahme gegen die Anschläge auf
amerikanische Botschaften in Ostafrika (im August 1998) deklariert waren. Das
war paradoxerweise der entscheidende Grund dafür, dass Pakistan die
Auslieferung Bin Ladens ablehnte, denn gerade die Militärschläge der USA
machten diesen vor allem in Pakistan und in den arabischen Golfstaaten zu einer
populären Figur.
Die USA gewährten allerdings auch der von Ahmad Masud angeführten
Opposition keine nennenswerte Unterstützung, und sie verwarfen obendrein die
einzige Erfolg versprechende Strategie, nämlich Druck auf Pakistan auszuüben.
Die westlichen Staaten liess
en Pakistan bei seiner Intervention in Afghanistan völlig
freie Hand und ermöglichten dadurch den Sieg der Taliban über Ahmad Masud. Im
Sommer 2000 entsandte die pakistanische Armee mehrere tausend Soldaten an die
Front, mit deren Hilfe die Einnahme der Stadt Taloqan gelang, die seit 1986 von
Masud kontrolliert wurde. Durch diesen Verlust war die Nachschublinie der
Masud-Truppen zwischen dem Panschirtal und Tadschikistan unmittelbar bedroht.
Diese allgemein bekannte und belegte militärische Unterstützung wurde von
den westlichen Staaten nicht kritisiert, etwa vor dem Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen(2) - obwohl die Opposition noch immer als die rechtmässige
Regierung Afghanistans gilt. Warum verzichtet man darauf? Vermutlich wollte man
die krisengeschüttelte Atommacht Pakistan nicht weiter destabilisieren.
Vielleicht wurde auch nach der Kaschmirkrise vom Frühjahr 1999(3) ein
stillschweigendes Abkommen geschlossen, das Pakistan und Afghanistan freie Hand
lässt, wenn sie dafür im Kaschmirkonflikt eine gemässigte Position beziehen.
Die USA zeigen jedenfalls kein Interesse an einer Lösung, ihnen geht es einzig
um die Auslieferung Ussama Bin Ladens. Das Resultat ist - und hier offenbart
sich der perverse Aspekt der westlichen Positionen -, dass die Taliban in dem Masse,
wie sie geographisch an Terrain gewinnen, vom politischen Geschehen
ausgeschlossen werden.
Das Instrument, mit dem Afghanistan isoliert wird, sind die internationalen
Sanktionen, die mit den über den Irak verhängten vergleichbar sind. Nach der
Einnahme Kabuls wurde die internationale Anerkennung der Taliban vom Fortschritt
auf drei Gebieten abhängig gemacht: Menschenrechte, Unterbindung des
Drogenhandels, Kampf gegen den Terrorismus. Auf die zweite Forderung - Stopp des
Opiumanbaus - gingen die Taliban ein und haben sie mit bemerkenswertem Erfolg
umgesetzt. Die Erfüllung der beiden anderen Bedingungen steckt in einer
Sackgasse. Die Taliban verweigern die Auslieferung Bin Ladens und schlagen im
Gegenzug vor, ihn einem Islamischen Gericht zu überstellen. Die Menschenrechte
sind dem Verständnis der Taliban nach der Scharia - dem Islamischen Recht -
untergeordnet, das sie äusserst rigide auslegen.
DIE auf Initiative der USA verhängten Sanktionen traten im November
1999 in Kraft, nachdem die Taliban die Auslieferung Bin Ladens abgelehnt hatten.
Die Sanktionen umfassten im Wesentlichen das internationale Flugverbot für die
staatliche Fluggesellschaft Ariana, das Einfrieren der Gelder der Taliban auf
ausländischen Konten sowie ein Investitionsverbot. Zwar brachten sie nicht den
erhofften Erfolg, doch sind die wirtschaftlichen und psychologischen
Auswirkungen auf die Bevölkerung nicht zu übersehen.(4 )Anfang 2001 traten
neue Sanktionen in Kraft. Der Sicherheitsrat, der hier als Vertreter der
nationalen amerikanischen Interessen auftritt, kümmert sich weder um den
globalen Hintergrund der Krise noch um die Dürre, von der das Land heimgesucht
wird.
Im Resultat bestrafen die Sanktionen die Zivilbevölkerung. Sie haben dazu
geführt, dass ihre Lebensbedingungen sich verschlechtert haben und dass die
Afghanen, die modernistische Lösungen vorschlagen, immer mehr in Misskredit
geraten, weil sie als Agenten des Auslands gelten. Damit werden die
xenophobischen und fundamentalistischen Strömungen, die seit dem Ausbruch des
Krieges manifest in Erscheinung treten, weiter verstärkt.
Die Frage ist natürlich nicht, ob die Taliban die Menschenrechte verletzen
oder nicht - darüber besteht kein Zweifel -, sondern welche Konsequenzen daraus
zu ziehen sind. Und die Sanktionen und die wachsende Isolation des Regimes sind
in keiner Weise geeignet, positive Veränderungen herbeizuführen, sie bewirken
vielmehr nur eine weitere Radikalisierung.
In der Tat sind die Taliban überzeugt, dass sie eine internationale
Anerkennung ohnehin nicht erlangen werden. Die Schliessung ihrer Vertretung in
New York zeigt, dass die USA sie nicht mehr als Verhandlungspartner akzeptieren.
Zudem wurde die Tatsache, dass die Sanktionen von Washington und Moskau
vorgeschlagen wurden, als Provokation aufgenommen. Die schwache Reaktion der
westlichen Länder auf den Appell der Vereinten Nationen, den Millionen Menschen
zu helfen, die durch die Dürre in der Region vertrieben wurden, verstärkt die
objektive und psychologische Isolation.(5 )Insofern ist die Zerstörung der
Statuen von Bamyan weniger als religiös motivierter Akt zu verstehen, denn als
Ausdruck einer politischen Radikalisierung.(6 )Mit dem medienwirksamen Coup
haben die Taliban demonstriert, dass sie mit der internationalen Gemeinschaft
gebrochen haben.
Mit seiner isolationistischen Politik hat der Westen die Bemühung um eine
politische Lösung faktisch aufgegeben. Diese hätte darin bestehen müssen,
einen Kompromiss zu suchen, der das Kräfteverhältnis in der Region
widerspiegeln müsste. Das hiesse, die Taliban als politischen Hauptakteur
anzuerkennen und Ahmad Masud an einer Einheitsregierung zu beteiligen. Die USA
haben diese Option verworfen. Die Mission Vendrells(7 )ist daher praktisch
gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen werden konnte. Und der Besuch von
Ahmad Masud im April 2001 in Europa - wie auch die militärische Hilfe, die er
von Frankreich erhält - wird die Opposition der Taliban gegenüber den
westlichen Staaten nur noch verstärken.
Zahlreiche Experten rechtfertigen diese Strategie des Nichtverhandelns mit
dem Argument, die Taliban seien nur ein vorübergehendes, auf Stammesstrukturen
beRuuhhendes Phänomen ohne gesellschaftliche Verankerung.(8 )Unter Berufung auf
die( )UNO-Doktrin - wonach Konflikte nicht mit militärischen Mitteln gelöst
werden dürfen - setzte man lange Zeit auf den Faktor Zeit. Die Erfolge der
Taliban wie auch ihr Organisationsgrad wurden systematisch unterschätzt, die
militärische Kapazität und der politische Rückhalt der Opposition hingegen überschätzt.
Die Taliban werden sich nicht von selbst in nichts auflösen, schon deshalb,
weil sie eine gewisse Sympathie bei der Bevölkerung geniessen und organisiert
genug sind, um sich in einem Land zu behaupten, das durch zwanzig Jahre Bürgerkrieg
zerrüttet ist.
Da keine Verhandlungslösung in Sicht ist, zeichnen sich zwei Szenarien ab:
Eine verstärkte militärische und diplomatische Unterstützung Ahmad Masuds bei
gleichzeitigem Druck auf Pakistan würde bedeuten, dass sich der Krieg noch auf
unbestimmte Zeit hinzieht. Ahmad Masud würde in den Bergen im Nordwesten des
Landes festsitzen und die Taliban den Grossteil des landwirtschaftlich nutzbaren
Landes kontrollieren. Falls Masud den Norden zurückerobern sollte, würde das
die Situation nur noch komplizierter machen, da die Koalition der
Oberbefehlshaber und der Oppositionsparteien zu inhomogen ist, um sich auf Dauer
zu behaupten. Zweites Szenario: Die Taliban erobern schliess
lich auch das
Panschirtal. In diesem Falle werden sie sich als Sieger über die Westmächte
und Russland verstehen und noch weniger zu Kompromissen mit der internationalen
Gemeinschaft bereit sein. Eine noch gröss
ere Abschottung könnte zum Rückzug
der Nichtregierungsorganisationen aus Afghanistan führen, der einzigen ausländischen
Vertreter, die zugleich auch die Rolle von Beobachtern wahrnehmen.(9)
Die Strategie der USA stellt demnach einen Faktor der Destabilisierung und
der Radikalisierung der Krise dar. Eine Aufhebung der Sanktionen bei
gleichzeitigem starkem diplomatischem Druck auf Pakistan könnten ein weiteres
Vorrücken der Taliban verhindern und zur Wiederaufnahme von Verhandlungen führen.
Ein zweiter Strang einer solchen Strategie wären massive finanzielle Mittel,
die vor allem über die NGOs fliess
en und insbesondere dem Ausbau des
Bildungswesens zugute kommen müssten. Das würde mittelfristig die
Herausbildung neuer Eliten ermöglichen, ohne die konkrete Veränderungen der
Gesellschaft in Afghanistan nicht denkbar sind.
dt. Andrea Marenzeller
Fussnoten:
(1 )Die USA unterstützten - trotz allgemeiner Kritik - wie Pakistan die
Hesb-i-Islami, die einzige afghanische Widerstandsbewegung mit offensichtlich
totalitären Tendenzen.
(2 )Die 1997 von den Nachbarstaaten gebildete Gruppe der 6 (Tadschikistan, Iran,
Usbekistan, Turkmenistan, China, Pakistan) plus 2 (USA und Russland)
unterzeichnete im Juli 1999 einen Vertrag, um die Interventionen in der
Afghanistankrise zu unterbinden.
(3 )Die pakistanische Armee schleuste im Frühjahr 1999 Truppen nach Kargil ein
(der indische Teil Kaschmirs), was zu einer schweren internationalen Krise führte.
(4 )Auslandsreisen sind für Privatpersonen mit gross
en Schwierigkeiten
verbunden; es gibt Handelsbeschränkungen, etwa in Bezug auf den Export von
frischem Obst in die Golfstaaten; für die Einfuhr von Medikamenten aus Indien
etc. werden Sonderzölle erhoben.
(5 )Laut Angaben des Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) wurden nur 10
Prozent der erforderlichen Summe von den Staaten aufgebracht.
(6 )Die früheren Dekrete von Mullah Omar schützten die Gesamtheit der
afghanischen Kunstdenkmäler vor Plünderung und Beschädigung; siehe Les
Nouvelles dAfghanistan, Paris, Februar 2001.
(7 )Francesco Vendrell ist der neue Afghanistanbeauftragte des Generalsekretärs
der UNO. Im Rahmen der Instruktionen des Sicherheitsrates ist er für die Förderung
des Friedensprozesses zuständig.
(8 )Olivier Roy, "Has Islamism a Future in Afghanistan?", In: William
Maley (Hg.), "Fundamentalism Reborn? Afghanistan and the Taliban", New
York University Press 1998, und Ahmed Rashid, "Taliban", London
(Tauris) 2000.
(9 )Die NGOs investieren jährlich etwa 100 Millionen Dollar in Afghanistan,
eine lächerliche Summe angesichts einer Bevölkerung von über zwanzig
Millionen. Ihr Einfluss ist jedoch weitaus gröss
er, als diese Zahlen vermuten
lassen, vor allem, weil sie den Fortbestand der sozialen Dienstleistungen gewährleisten
und tausenden Afghanern zu Arbeit verhelfen.
Le Monde diplomatique Nr. 6471 vom 15.6.2001, Seite 10, 288
Dokumentation GILLES DORRONSORO
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